Thema 2021: „Zur Ästhetik des nordischen Protestantismus“

PROGRAMM  

Dass Skandinavien als ein kulturell homogener Raum wahrgenommen wird, liegt zu einem wesentlichen Teil daran, dass in den drei festlandskandinavischen Länder Dänemark, Norwegen und Schweden über Jahrhunderte die Zugehörigkeit zur lutherischen Staatskirche die Norm war. Die drei eingeladenen Wissenschaftler aus Freiburg und Straßburg gehören einer Forschungsgruppe an, die die These verfolgt, dass die Reformation nicht nur ein wichtiger Faktor in der politischen, sozialen und kirchlichen Geschichte Skandinaviens war, sondern dass protestantische Logiken und Vorstellungswelten bis heute einen weitreichenden Einfluss auf das kulturelle Leben in allen seinen Formen von der Literatur bis zum Design besitzt: Die besondere Neigung zu Einfachheit und Purismus, zu Logozentrismus und Pflichtethik, die Spannung zwischen Individualismus und Kollektivität können als Elemente einer spezifisch protestantischen Ästhetik benannt werden. Die Vorträge behandeln diese These an berühmten Texten der dänischen und schwedischen Literatur. Ergänzt wird das skandinavistische Programm durch einen Blick auf den Greifswalder Dom und auf die Diskussionen um eine protestantische Ästhetik anlässlich seiner Neugestaltung im 19. Jahrhundert.

 

Montag 10.05.2021

Literaturwissenschaftliches Kolloquium: "Zur Ästhetik des nordischen Protestantismus"

(10:00-14:30 Uhr, digital) 

 

10:00-10:15 Uhr: Prof. Joachim Schiedermair (Ludwig-Maximilians-Universität München): Einführung

10:15-11:00 Uhr: Dr. Søren Black Hjortshøj (Université de Strasbourg): The Pietistic priest and the Nordic welfare state politician: Henrik Pontoppidan´s Det Forjættede Land and the building of modern Denmark

11:00-11.45 Uhr: Prof. Dr. Thomas Mohnike (Université de Strasbourg): Nils Holgerssons wunderbare Reise durch die protestantische Ästhetik des schwedischen Wohlfahrtsstaates

13:00-13:45 Uhr: Prof. Dr. Joachim Grage (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg): „Nulla dies sine linea“ – Kierkegaards Journale und die Frage nach dem protestantischen Arbeitsethos

13:45-14:30 Uhr: PD Dr. Tilman Beyrich (Universität Greifswald): „um sich über das Sichtbare zu erheben". Zur Ästhetik des Protestantismus am Beispiel der romantischen Umgestaltung des Greifswalder Doms

 


„um sich über das Sichtbare zu erheben“. Zur Ästhetik des Protestantismus am Beispiel der romantischen Umgestaltung des Greifswalder Doms

(PD Dr. Tilman Beyrich, Universität Greifswald)

Als der Greifswalder Dom St. Nikolai 1824-1833 im Geiste der Neogotik umgestaltet wurde, ließ man sich inspirieren von einem ästhetischen-theologischen Programm, das – wie oft betont wird – der Bilderwelt Caspar David Friedrichs eng verbunden ist. Tatsächlich bildeten der Architekt Gottlieb Giese, der Dompastor Johann Finelius, Caspar David und sein Bruder Christian Friedrich, der die Tischlerarbeiten ausführte, einen Freundeskreis. In diesen Gedankenaustausch gehörte auch Friedrichs Freund und entfernt Verwandter Franz Christian Boll, damals Pastor an der Neubrandenburger St. Marienkirche, der in seiner Schrift „Von dem Verfalle und der Wiederherstellung der Religiosität“ 1809/10 ein Programm für die Erneuerung protestantischer Kirchen entwirft. Friedrich hat sich nachweislich mit dieser Schrift auseinandergesetzt.

Die theologischen Anregungen Bolls und Finelius` für einen typisch „nordischen Protestantismus“ sollen diskutiert werden: in einem Vortrag und in einer Führung durch den Dom. Achtung: Domführung fällt aus, wenn das Kolloquium nur digital stattfindet

Tilman Beyrich ist seit September 2018 Dompastor an St. Nikolai Greifswald und Theologischer Beauftragter am Institut für Kirchenmusik und Musikwissenschaft der Universität Greifswald, nachdem er 10 Jahre als Pastor in der Pfarrstelle Heringsdorf-Bansin und als Religionslehrer an der Europäischen Gesamtschule Insel Usedom tätig war. Nach einem Studium der Evangelischen Theologie in Greifswald, Tübingen und Paris war er von 1995 bis 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie und Ethik der Theologischen Fakultät Greifswald. Er wurde mit einer Promotion über J. Derrida und S. Kierkegaard promoviert und habilitierte sich mit einer Arbeit über P. Sloterdijk.

„Nulla dies sine linea“ – Kierkegaards Journale und die Frage nach dem protestantischen Arbeitsethos

(Prof. Dr. Joachim Grage, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg)

Neben seinen veröffentlichten Schriften hat Søren Kierkegaard ein kaum weniger umfangreiches Werk in seinen Journalen und Aufzeichnungen hinterlassen, die seine ‚Wirksamkeit als Schriftsteller’ bis zu seinem Tod begleiten. Sie wurden wiederholt ediert, in deutscher Übersetzung auszugsweise unter dem irreführenden Titel „Tagebücher“, sind jedoch erst in der neuen Kierkegaard-Ausgabe Søren Kierkegaards Skrifter vollständig und in ihrer ursprünglichen Anordnung greifbar.

Die handschriftlichen Journale zeugen von einer täglichen Schreib- und Reflexionspraxis. Sie versammeln Skizzen und Entwürfe zu geplanten Veröffentlichungen und zu Predigten, Notate zu und Exzerpte aus Lektüren, Reflexionen zu seinen persönlichen Verhältnissen und zu Themen, mit denen sich Kierkegaard beschäftigte, kleine Geschichten und Essays sowie andere Formen des tagesaktuellen Schreibens.

Der Vortrag behandelt die Journale zunächst in Hinblick auf protestantische Praktiken der Selbstreflexion und somit als Ausdruck eines Schreibens, das seinen Impuls aus einem Selbstverständnis als religiöser Schriftsteller bezieht. In einem zweiten Schritt soll die Frage diskutiert werden, ob Kierkegaards tägliche Schreibpraxis Ausdruck eines ‚protestantischen Arbeitsethos‘ ist, wie es Max Weber in seiner berühmten Studie Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus (1904/05) charakterisiert hat. Dafür wird insbesondere auf die für Kierkegaard zentralen Begiffe der „Produktivitet“ und der „Virksomhed“ (Wirksamkeit) eingegangen.

Joachim Grage war nach seinem Studium der Germanistik, Skandinavistik und Chemie zunächst wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent am Skandinavischen Seminar der Universität Göttingen, bevor er dort 2002 zum Juniorprofessor für Nordische Philologie berufen wurde. Seit 2008 ist er Professor für Nordgermanische Philologie (Neuere Literatur- und Kulturwissenschaft) an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Er war mehrfach Fellow am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS), unter anderem gemeinsam mit Thomas Mohnike, mit dem er zur Konstruktion imaginierter Geographien in der fachgeschichtlichen Entwicklung der europäischen Philologien sowie zur Ästhetik des Protestantismus forscht. Weitere Schwerpunkte seiner Forschung sind unter anderem die Intermedialität von Literatur und Musik, deutsch-skandinavische Kulturkontakte sowie die skandinavische Kinder- und Jugendliteratur, über die er im Rahmen des Freiburger Sonderforschungsbereichs Helden – Heroisierungen – Heroismen arbeitet. Er ist außerdem Mitherausgeber der Deutschen Søren Kierkegaard-Edition, die seit 2005 im de Gruyter-Verlag erscheint.

The Pietistic priest and the Nordic welfare state politician: Henrik Pontoppidan’s Det Forjættede Land and the building of modern Denmark

(Dr. Søren Black Hjortshøj, Université de Strasbourg)

In this paper, I will focus on Nobel Prize Winner Henrik Pontoppidan’s novel Det Forjættede Land (1892-98) and its focus on how competing forms of Protestantism merge specific interpretations of Christianity with political struggles in this period were democracy and the first elements of the Nordic welfare states were implemented. The novel points to the role of the Protestant priest as key in the development of modern day Nordic politicians. In many years, however, dominating ‘narratives of secularization’ have obstructed a better understanding of how the development of modern state forms and modern political cultures are historically intermingled with religious traditions. Yet, as Dominic Erdozain has argued (2017), often, what we perceive today as the result of modern rationalistic ‘disenchantment’ logics – for example in the context of our present-day society models and political culture – are in fact echoes of polemics between religious traditions. In a Nordic welfare state context, particularly, the Protestant Pietistic revivalist movements of the 18th century, have as such been considered as reactionary ‘anti-modern’ movements although the first Nordic example of a modern reformed centralistic “top down” state focusing on universal ‘enlightened’ education was created during the Dano-Norwegian Halle Pietistic state regime of Christian VI. Yet, the modern nation building role of the Protestant revivalist movements have almost singularly been accredited to N. F. S. Grundtvig creating a somewhat exceptionalist narrative on Grundtvig in current welfare studies.

Most likely influenced by his own Pietistic-influenced family history, Henrik Pontoppidan operates in Det Forjættede Land with a broad historical perspective. The novel somewhat concentrates 200 years of Dano-Norwegian Protestant history and grundtvigianismen is described as one of several competing forms of Protestantism that merge interpretations of the Bible with political struggles. Through its discussions of the modern priest role, the novel also opens up for a discussion of whether we can speak of a specific modern Nordic welfare state politician type. Thus, in the Nordic countries, known for their low ratings on corruption and high degree of social trust, it seems that Nordic welfare state politicians are expected to follow and mime a Pietistic-influenced ethical value set of moderation, plainness, non-materialistic lifestyle, “samfundssind”/social spirit above individual interests, diligence and humility. At the same time, in the rather “top-down” centralistic Nordic welfare societies, present-day politicians hold powerful positions compared to other countries’ politicians, e.g. in the context of regulating family life, child upbringing and education.

Søren Black Hjortshøj wrote his dissertation on the representation of Jewishness in the writings of the Danish-Jewish fin-de-siécle intellectual Georg Brandes, published as Son of Spinoza. Georg Brandes and Modern Jewish Cosmopolitanism (Aarhus: Aarhus University Press, 2021). He also holds a MA in Comparative Literature from the Uni. of Copenhagen. Currently, he is working on a research project on the Protestant Aesthetics of the Nordic Welfare State at Université de Strasbourg where he is part of the „Aesthetics of Protestantism in Northern Europe“ research project. In 2020, he was awarded with the Carlsberg Foundation postdoc scholarship and will from the end of 2021-2023 finish his current research project and next book at the Henrik Pontoppidan Center at University of Southern Denmark.

Nils Holgerssons wunderbare Reise durch die protestantische Ästhetik des schwedischen Wohlfahrtsstaates

(Prof. Dr. Thomas Mohnike, Université de Strasbourg)

Selma Lagerlöfs Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen [Nils Holgerssons underbara resa genom Sverige] (1906/7) ist zweifelsohne eines der auch international meistbekannten schwedischen Bücher des 20. Jahrhunderts. Es hat nachhaltig das Bild von Schweden geprägt – zum einen wegen seiner zahlreichen Film- und Textadaptionen, zum anderen aber auch, weil das Buch in Schweden bis in die 1950er Jahre als Lesebuch für die Grundschule verwendet wurde, und deshalb für fast zwei Generationen ein wichtiger Referenztext war, ein Text, den jeder kannte und auf den man sich beziehen konnte. Lagerlöf hat es als Geographiebuch konzipiert, aber auch als ein Lesebuch, das zentrale Werte vermitteln sollte, die für die schwedische Gesellschaft wichtig werden sollten, nicht zuletzt im Rahmen des schwedischen Wohlfahrtsstaates. Das Buch bezieht sich auf zahlreiche pädagogische und soziale Ideen, insbesondere von Ellen Key, aber auch anderen progressiven Schulreformern. Christliche Werte, Ideen und Erzählungen treten in dem Buch in den Hintergrund – und das ist hier wörtlich zu nehmen: Im Gegensatz zu vielen anderen Texten, die Selma Lagerlöf zur gleichen Zeit schrieb, spielt Religion auf der Oberfläche nur eine unwichtige Rolle. Umso interessanter ist es, wie Ideen und Praktiken aus verschiedenen protestantischen Milieus und Gruppen in die Gestaltung eingehen – als Intertexte, als ästhetische Modelle, als ethische Maßstäbe. Nils Holgersson kann in diesem Zusammenhang als ein zentrales Medium für die Vermittlung dieser ursprünglich protestantischen Ideale in einen areligiös konnotierten, säkularen diskursiven Raum beschrieben werden. In meinem Beitrag möchte ich diesen Gedanken in einer Kombination von Nah- und Fernlektüre nachgehen.

Thomas Mohnike ist Professor für Skandinavistik an der Université de Strasbourg. Forschungsschwerpunkte sind in den letzten Jahren die Ästhetik des Protestantismus in Nordeuropa (mit Joachim Grage und Lena Rohrbach), die vorgestellten Geographien der vergleichenden Philologien des 19. und 20. Jahrhunderts (mit Joachim Grage) und die Beschreibung der kulturellen Zirkulation von Mythemen des Nordens mit Hilfe von Ansätzen aus den Digital Humanities (https://mythemes.u-strasbg.fr/). Er ist Gründungspräsident der Association pour les études nordiques (2013-19), Mit-Herausgeber der Zeitschrift Deshima. Arts, Lettres et Cultures des Pays du Nord (2010-19).  Zu seinen Veröffentlichungen zählen Geographies of Knowledge and Imagination in 19th Century Philological Research on Northern Europe (2017, hg. m. Joachim Grage); Qu’est-ce que l’Europe du Nord? (2016, hg. m. mit Thomas Beaufils), Protestantisme en Europe du Nord aux XXe et XXIe siècles (2013, hg. m. Frédérique Harry).