Habilitand:
Benjamin Schweitzer

Arbeitsbereich:
Fennistische Sprachwissenschaft
(IRTG Baltic Peripeties)

Betreuer:
Prof. Dr. Marko Pantermöller

„Kinderzimmer“ oder „Fenster nach Europa“? Die finnische Avantgarde im Spiegel der Sprache (Arbeitstitel)

Das umfangreiche Projekt A Cultural History of the Avant-Garde in the Nordic Countries I-IV (Ørum & al. 2012-2022) hat die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, wie die Avantgarde in Nordeuropa zwischen Aneignung und Eigenständigkeit ein breites Spektrum von Ausdrucksmöglichkeiten entwickelte. Eine Gesamtdarstellung der finnischen Avantgarde steht hingegen noch aus (Hautamäki & al. 2021: 9–10). Doch lassen sich vorläufig mehrere distinktive Avantgarde-Epochen in Finnland identifizieren, darunter zwei besonders prominente und produktive: Die der 1920er Jahre war geprägt von Aufbruchsstimmung in der Frühzeit der Unabhängigkeit und wäre knapp charakterisierbar durch den Appell Ikkunat auki Eurooppaan päin (ʻFenster auf nach Europaʼ) des Schriftstellers Elmer Diktonius (1922: 25). Die zweite intensive Avantgardephase wäre in den 1950er und 1960er Jahren zu verorten, als eine junge Künstlergeneration unter anderem die internationalen Praktiken von Fluxus und Happening für sich entdeckte; sie ließe sich als eher spielerisch, aber auch skandalträchtig beschreiben – so wurde für das erste Konzert der Gruppe Musiikkinuoriso das Verdikt barnkammeroväsen ʻKinderzimmerlärmʼ geprägt (Ringbom 1962: 6), woraus die Gruppe selbst das Fahnenwort lastenkamarikonsertti ʻKinderzimmerkonzertʻ ableitete. Bereits diese beiden charakteristischen Beispiele lassen erkennen, dass die sprachliche Konstruktion und Bewältigung des Phänomens ‚Avantgarde‘ – als „gemeinsames Handlungsproblem“ (Oevermann 2001: 37) im Sinne des Konzepts sozialer Deutungsmuster – ein vielversprechendes Untersuchungsthema ist. Das Vorhaben schließt an zwei zentrale Befunde aus meiner Dissertation an: (1) Kunstdiskurse können in einem receiver country bzw. in peripheren Kulturräumen eine Brennglasfunktion haben, d.h. die diskursiven Strukturen kunstbezogener Problemstellungen in besonderer Schärfe freilegen; sowie (2) kontrastive Ansätze sind für kultur- und diskurslinguistische Untersuchungen perspektivreich, wenn nicht gar essenziell. Das kontrastive Moment liegt in diesem Projekt im Vergleich der Diskurse zu unterschiedlichen Kunstgattungen. Zunächst wird, heuristisch ausgehend von avantgarde/etujoukko und Instanzen der Kategorien KUNST und FINNISCH, ein exploratives Kernkorpus kompiliert. Mit Hilfe der Analyse von um diese Konstellation angelagerten Mehrwortausdrücken und Diskurssträngen wird dieses Korpus konzentrisch erweitert und auf Basis der Methodik diachroner korpusassistierter Diskursanalyse (Partington & al. 2013) die Lexik, Phraseologie und (evaluative) Diskursprosodie (Jantunen 2018) der finnischen Avantgarde herausgearbeitet. Die Arbeitshypothese zu dem Projekt lässt sich so umreißen: Die Avantgardekunst fand ihren Niederschlag in sprachlichen Äußerungen, die in Oberflächenphänomenen und semantischer Tiefenstruktur als Reaktion auf als ereignishaft-disruptiv wahrgenommene Neuerungen analysiert werden können und an denen sich Strategien und Prozessualitäten ablesen lassen, etwa

  • diachrone Verläufe und Phasen (etwa auch im Hinblick auf die Auswirkungen der nationalistisch-konservativen gesellschaftlichen und kulturellen Wende im Finnland der 1930er und 1940er Jahre und der Stagnation künstlerischer Innovation in dieser Zeit);
  • konflikthafte Sichtweisen und akteursspezifische Gegendiskurse – seitens der Künstlerinnen und Künstler zwischen Akzeptanzerwartung (Würdigung ihres Innovations- und Pioniergeists und ihrer Initiative zu gesellschaftlicher Veränderung) und Provokation, seitens des Publikums zwischen Widerspruch und Faszination angesichts von Brüchen mit tradierten Vorstellungen von Kunst (zumal im nationalistisch geprägten finnischen Kunstdiskurs);
  • Merkmale der Eigenständigkeit und Spezifik einer finnischen Avantgarde;
  • Abgrenzungen zwischen fachlichen und nichtfachlichen Äußerungen sowie Identifizierung sprachlich kodierter Unterscheidungen zwischen den Diskursformationen verschiedener Kunstgattungen (Literatur, Musik, Bildende Kunst, Theater, Tanz, Film).

Promovend:
Benjamin Schweitzer

Arbeitsbereich:
Fennistische Sprachwissenschaft
(IRTG Baltic Peripeties)

Betreuer:
Prof. Dr. Marko Pantermöller

Adaptation – Konstruktion – Narration. Untersuchungen zur finnischen Musikfachsprache aus historischer, struktureller und diskurslinguistischer Perspektive

Abstract:

Die finnische Fachsprache der Musik entstand weitgehend parallel zu jenen Prozessen und Ereignissen, die den Aufstieg Finnlands zu einer weit über den Ostseeraum hinaus bedeutenden „Musiknation“ markierten. Sie war damit zugleich eine der Bedingungen dafür, dass der Kunstgattung jene Bedeutung erwachsen konnte, die sie heute für die finnische Kultur und das nationale Selbstverständnis hat, und Begleiterscheinung dieser Entwicklung. Die geplante Arbeit soll zunächst die Entstehung der finnischen Musikfachsprache darstellen und ihre Strukturen analysieren. Daran anschließend soll herausgearbeitet werden, wie sich die Stellung der Musik als Eckpfeiler der finnischen kulturellen Identität und als Element der damit verknüpften Narrative in ihrer Fachsprache niedergeschlagen hat, und zwar nicht allein in der Terminologie, sondern auch in größeren textlichen Zusammenhängen.

Der Untersuchungszeitraum wird sich von den ersten, Mitte des 19. Jh. angelegten Wortsammlungen bis in die Gegenwart erstrecken, da jede neue Entwicklung in der Kompositionstechnik und Musikästhetik neue sprachliche Mittel zu ihrer Beschreibung notwendig macht: Die Fachsprache reagiert auf den beständigen Wandel der Künste, der seinerseits auch gesellschaftliche Veränderungen abbildet. Dieser Prozess lässt sich als unabgeschlossene Folge von Mikroperipetien betrachten, die das Konzept sprachplanerischer Kontrolle und die (im Narrativ der finnischen Sprachgeschichtsdarstellung prominente) Vorstellung von der Wirkmächtigkeit einzelner Akteure, Publikationen oder sprachpflegerischer Institutionen in Frage stellen.

Im Bereich der fennistischen Fachsprachenforschung existieren zwar grundlegende Arbeiten, auf deren Methodik und Erkenntnisse teils aufgebaut werden kann. Der Teilbereich der finnischen Musikfachsprache jedoch ist als weitgehend unerforscht zu betrachten. Der Ansatz, eine spezifische Fachsprache vor dem Hintergrund der Auswirkungen historischer Peripetien und kultureller Narrative zu untersuchen, verspricht Erkenntnisse, die auch für die Fachsprachenforschung über die Fennistik hinaus von Interesse sein können.