Habilitand:
Dr. des. Benjamin Schweitzer
Arbeitsbereich:
Fennistische Sprachwissenschaft
(IRTG Baltic Peripeties)
Förderung 4/25-3/28
Kone-Foundation, ~ 91 T€
Die finnische Avantgarde im Spiegel der Sprache
Die nordische Avantgarde ist in den zurückliegenden Jahrzehnten zusehends in den Blickpunkt der Forschung gerückt, (s. z.B. Ørum & al. 2012-2022). Eine eigenständige Gesamtdarstellung der finnischen Avantgarde liegt noch nicht vor, doch wird auch diese zunehmend erforscht (z.B. Hautamäki & al. 2021).
Radikale, mit den Gewohnheiten des Publikums brechende Kunst aller Genres wurde in auch in Finnland lange vor und jenseits kunsttheoretischer Theoriebildung sprachlich vielfältig reflektiert: Tyko Sallinens Kunst wurde „radikaler Geist des Rausches“ attestiert (1911). Elmer Diktoniusʼ Appell Ikkunat auki Eurooppaan päin (1922) kann als konzentriertes Programm der ersten finnischen Avantgardephase gelten. Niels Ringboms Verdikt barnkammeroväsen ʻKinderzimmerlärmʼ für das erste Happening-Konzert der Gruppe Musiikkinuoriso (1962) wurde, zu lastenkamarikonsertti modifiziert, ein Schlagwort einer kurzen, aber intensiven Epoche der finnischen musikalischen Moderne.
Diese charakteristischen Beispiele aus drei Kunstgattungen und Epochen finnischer Avantgarde lassen bereits erkennen, dass die sprachliche Konstruktion und Bewältigung des Phänomens ‚Avantgarde‘ ein vielversprechendes Untersuchungsthema ist. Sie verweisen jedoch zugleich auf ein Grundproblem: ‚Avantgarde‘ wurde je nach Zeit und Akteursperspektive ganz unterschiedlich beurteilt und beschrieben. Eine unumstrittene und für einen längeren Zeitraum gültige kunsthistorische Definition dürfte man daher kaum finden, und auch eine begriffsgeschichtliche Erforschung von ‚Avantgarde‘ gilt als Desiderat (Sjöberg 2020: 160).
Diese Forschungslücke führt zu dem zentralen Forschungsansatz des Vorhabens, nämlich einer ausdrücklich linguistischen Analyse von Konstruktionen des Konzepts ‚Avantgarde‘ in Finnland. Im Sinne der Idee eines „sprachlichen Weltbildes“ (zurückgehend auf die klassischen Entwürfe der Konstruktion von Welt durch Sprache) sollen also Begriffsumfang und -inhalt von ‚Avantgarde‘ aus sprachlichen Reaktionen auf künstlerische Praktiken erschlossen werden.
Das Vorhaben geht von zwei Grundannahmen aus: (1) Kunstdiskurse können in peripheren Kulturräumen eine fokussierende Funktion haben, weil in anderen Kulturräumen entstandene künstlerische Innovationen in einem receiver country wie Finnland als „Explosionen“ im Sinne Lotmans (2009) erscheinen. (2) In sprachlich-diskursiven Reaktionen auf solche als disruptiv wahrgenommene, konflikthafte Phänomene werden gesellschaftliche Mentalitäten und deren Wandlungsprozesse besonders deutlich erkennbar. Eine Studie am Fallbeispiel Finnland, so die Arbeitshypothese, lässt daher Ergebnisse und Erkenntnisse erwarten, die geeignet sein könnten, konventionelle begriffliche Bestimmungen von ‚Avantgarde‘ zu erweitern.
Promovend:
Benjamin Schweitzer, M.A.
Arbeitsbereich:
Fennistische Sprachwissenschaft
(IRTG Baltic Peripeties)
Betreuer:
Prof. Dr. Marko Pantermöller
Adaptation – Konstruktion – Narration. Untersuchungen zur finnischen Musikfachsprache aus historischer, struktureller und diskurslinguistischer Perspektive
Abstract:
Die finnische Fachsprache der Musik entstand weitgehend parallel zu jenen Prozessen und Ereignissen, die den Aufstieg Finnlands zu einer weit über den Ostseeraum hinaus bedeutenden „Musiknation“ markierten. Sie war damit zugleich eine der Bedingungen dafür, dass der Kunstgattung jene Bedeutung erwachsen konnte, die sie heute für die finnische Kultur und das nationale Selbstverständnis hat, und Begleiterscheinung dieser Entwicklung. Die geplante Arbeit soll zunächst die Entstehung der finnischen Musikfachsprache darstellen und ihre Strukturen analysieren. Daran anschließend soll herausgearbeitet werden, wie sich die Stellung der Musik als Eckpfeiler der finnischen kulturellen Identität und als Element der damit verknüpften Narrative in ihrer Fachsprache niedergeschlagen hat, und zwar nicht allein in der Terminologie, sondern auch in größeren textlichen Zusammenhängen.
Der Untersuchungszeitraum wird sich von den ersten, Mitte des 19. Jh. angelegten Wortsammlungen bis in die Gegenwart erstrecken, da jede neue Entwicklung in der Kompositionstechnik und Musikästhetik neue sprachliche Mittel zu ihrer Beschreibung notwendig macht: Die Fachsprache reagiert auf den beständigen Wandel der Künste, der seinerseits auch gesellschaftliche Veränderungen abbildet. Dieser Prozess lässt sich als unabgeschlossene Folge von Mikroperipetien betrachten, die das Konzept sprachplanerischer Kontrolle und die (im Narrativ der finnischen Sprachgeschichtsdarstellung prominente) Vorstellung von der Wirkmächtigkeit einzelner Akteure, Publikationen oder sprachpflegerischer Institutionen in Frage stellen.
Im Bereich der fennistischen Fachsprachenforschung existieren zwar grundlegende Arbeiten, auf deren Methodik und Erkenntnisse teils aufgebaut werden kann. Der Teilbereich der finnischen Musikfachsprache jedoch ist als weitgehend unerforscht zu betrachten. Der Ansatz, eine spezifische Fachsprache vor dem Hintergrund der Auswirkungen historischer Peripetien und kultureller Narrative zu untersuchen, verspricht Erkenntnisse, die auch für die Fachsprachenforschung über die Fennistik hinaus von Interesse sein können.