Thema 2022: „Säkularisierung erzählen. Entwürfe skandinavischer Literatur um 1900“

PROGRAMM

Säkularisierung erzählen
Säkularisierung bezeichnet gemeinhin den Übergang von einer sakral zu einer säkular legitimierten Gesellschaft. Das Konzept besaß zwischen 1900 und 2000 eine schier unangreifbare Plausibilität für die Selbstdeutung europäischer Gesellschaften. Ausgangspunkt der Tagung ist die Beobachtung, dass diese Evidenz in den letzten 15 Jahren in der Soziologie, der Philosophie und der Historiographie zunehmend in Frage gestellt wird.
Die Literaturwissenschaft eröffnet in der Krise des Säkularisierungsbegriffs eine grundsätzlich neue Perspektive: Durch die aktuellen Versuche, das Verhältnis von Religion und Gesellschaft anders zu fassen, wird deutlich, dass es sich bei ‚Säkularisierung’ nicht um einen unabwendbaren historischen Prozess handelt, sondern um ein spezifisches Narrativ, also um ein kulturell etabliertes Regelsystem, das es erlaubt, verschiedene Einzelelemente zu einem gemeinsamen narrativen Sinn zu ordnen. Als solches liefert das Narrativ einen Deutungsrahmen, in den individuelle wie kollektive Erlebnisse gegossen und zu einer überzeugenden Erzählung angeordnet werden können.
Die Tagung sucht den Moment auf, zu dem das Säkularisierungsnarrativ noch nicht zu seiner kanonischen Form gefunden hat. Gefragt wird aus skandinavistischer Perspektive danach, wie die Literatur Dänemarks, Norwegens und Schwedens an der Formung und Durchsetzung des Säkularisierungsnarrativs um 1900 mitgearbeitet hat: Welche Stimmen lassen sich mit welchen Positionen unterscheiden und welche spezifisch literarischen Mittel der kulturellen Selbstinterpretation kommen zum Einsatz? Welche Logiken bemühen literarische Texte in der Phase der Etablierung des Narrativs, um es glaubwürdig zu machen oder um Alternativen auszuarbeiten?


Entwürfe skandinavischer Literatur um 1900
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war in Europa durch umwälzende Modernisierungs-schübe gekennzeichnet, die Skandinavien mit etwas Verzögerung, dafür aber umso konzentrierter erreichten. Vielen Theoretiker*innen gilt die Loslösung von einem göttlichen Übervater und dessen überzeitlicher Ordnung als Katalysator für die Prozesse, die zur Herausbildung von Eigenverantwortlichkeit, Freiheit, Subjektivität und Rationalismus führen konnten, weshalb man Säkularisierung als Schubkraft der Modernisierung ansehen könne. Die Literatur von 1870 bis 1920 wurden lange Zeit als ein Effekt dieser Umwälzungen betrachtet. Die Tagung jedoch setzt sich von dieser Annahme bewusst ab, indem es die zeitgenössischen Autor*innen als Akteure der Diskursformung betrachtet, und untersucht, auf welche Weise und mit welchen Mitteln sie an der Erschaffung und Ausformung der Deutungskategorie ‚Säkularisierung‘ beteiligt waren. Ihre Texte sind damit nicht (nur) als zeitdiagnostische Quellen, sondern als performativ-politische Investitionen zu lesen.
Die Tagung lädt dazu ein, die belletristischen Autor*innen um 1900 als Zeitgenoss*innen der Säkularisierungstheoretiker wahrzunehmen, d.h. ihre Romane, Novellen und Dramen als vorbereitende, parallele oder alternative Geschichten zum Säkularisierungsnarrativ zu lesen.

 

Montag 09.05.2022

(09:15-19:30 Uhr / Ort: Alfried Krupp Wissenschaftskolleg)

09:15-09:30 Uhr: Begrüßung

Einführung

09:30-10:15 Uhr: Joachim Schiedermair (München): Narzisstische Kränkungen. Niels Lyhnes Säkularisierungserzählungen zur Einführung

Narrative Muster und Medien

10:15-11:00 Uhr: Dirk Johannsen (Oslo): Die Freidenker des Modernen Durchbruchs: Säkularität als Erzählkultur

Kaffeepause

11:30-12:15 Uhr: Marie Louise Svane (Kopenhagen): Emancipation, jalousi og religiøs autoritet. Narrative mønstre fra 1800-tallets ‚orientalske fortælling’ hos Edvard Brandes og Holger Drachmann

12:15-13:00 Uhr: Joachim Grage (Freiburg): Das Tagebuch als Medium des Säkularisierungsnarrativs? Garborgs Trætte Mænd

Mittagspause mit Catering

Relais und Umsemantisierungen

14:30-15:15 Uhr: Anna Bohlin (Bergen/Uppsala): Predikanten Selma Lagerlöf: inkarnation som ‚relä’ i Jerusalem

15:15-16:00 Uhr: Markus Kleinert (Erfurt/Göttingen): „[E]n velsignet episode“. Zur Verweltlichung religiöser Rede in Ibsens Når vi døde vågner

Figuren von De- und Resakralisierung

16:00-16:45 Uhr: Krzysztof Bak (Stockholm/Krakau): Kulturminnet avförtrollat? Sekularisering och resakralisering i Carl Snoilskys Svenska bilder

Pause mit Erfrischungen

Öffentlicher Abendvortrag

18:00-19:30 Uhr: Hans Joas (Berlin): Was kommt nach der Säkularisierungsthese? Religiöse und säkulare Quellen des Menschheitsethos; Moderation: Joachim Schiedermair

 

Dienstag 10.05.2022

(09:30-18:00 Uhr / Ort: Alfried Krupp Wissenschaftskolleg)

09:30-10:15 Uhr: Thor Holt (Oslo): Ibsen and Theodicy: Phantoms and Secularization

10:15-11:00 Uhr: Thomas Mohnike (Straßburg): Licht, Liebe, Hoffnung – Bjørnstjerne Bjørnsons Naturdarstellung als sakraler Säkularisierungsraum

Kaffeepause

Patriarchat / Autorität / Geschlecht

11:30-12:15 Uhr: Frederike Felcht (Frankfurt): „Håll dig till Herren Gud, om du kommer i bedröfvelse. Menskor kunna ej hjelpa.” Patriarchat und Religion in Daniel Stens Frost

12:15-13:00 Uhr: Unni Langås (Kristiansand): Bjørnson, Skram, kristendommen og patriarkat

Mittagspause mit Catering

14:00-14:45 Uhr: Dörte Linke (Berlin): Scheinheiligkeiten. Zur Auseinandersetzung mit Kirche und Glauben in Lydia Vik. En själs historia von Hilma Angered Strandberg

Säkularisierung und Judentum

14:45-15:30 Uhr: Annegret Heitmann (München): Liv for Liv. Emanzipation und Säkularisierung in Olivia Levisons Prosa

Kaffeepause

16:00-16:45 Uhr: Klaus Müller-Wille (Zürich): Wider die Erlösung. Lykke Per und andere negative Helden

16:45-17:30 Uhr: Clemens Räthel (Greifswald): Zwischen(t)räume. Jüdisch-christliche Säkularisierung in Henri Nathansens Drama Indenfor muren

17:30-18:00 Uhr: Abschlussdiskussion

Weitere Informationen zur Teilnahme in Präsenz oder digital finden Siehier.


Krzysztof Bak är professor i litteraturvetenskap vid Stockholms universitet och professor i svensk litteratur vid Uniwersytet Jagielloński i Kraków. Ett av hans centrala forskningsfält är de mångskiftade relationerna mellan litteratur och ‚sacrum’. I sina publikationer har han bland annat diskuterat initiationsarketypen hos P. D. A. Atterbom, den intersubjektiva synden hos Birgitta Trotzig och det augustinska minneskonceptet
hos Torgny Lindgren.

Anna Bohlin är førsteamanuensis i nordisk litteratur vid Universitetet i Bergen och docent i litteraturvetenskap vid Uppsala universitet. Hon är medredaktör för den tvärvetenskapliga antologin Tracing the Jerusalem Code vol. 3: The Promised Land. Christian Cultures in Modern Scandinavia (ca. 1750–ca. 1920) (2021) och huvudredaktör för Nineteenth-Century Nationalisms and Emotions in the Baltic Sea
Region: The Production of Loss
(2021). Hennes senaste forskningsprojekt Förtrollande nationer: varumarknad, folktro och nationalism i skandinavisk skönlitteratur 1830–1850 (finansierat av RJ 2016–2018) har bland annat resulterat i den tvärvetenskapliga, nordiska antologin Nation som kvalitet: Smak, offentligheter och folk i 1800-talets Norden (2021).

Frederike Felcht ist Professorin für Neuere skandinavische Literatur und Kultur an der Goethe-Universität Frankfurt und Geschäftsführende Direktorin des Instituts für Skandinavistik. Nach einem Studium der Kulturwissenschaft, Skandinavistik und Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) hat sie an der Universität Mannheim mit einer Arbeit über Hans Christian Andersen aus einer globalisierungstheoretisch fundierten Perspektive promoviert. Vor ihrer Tätigkeit in Frankfurt war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Greifswald, Lehrkraft für besondere Aufgaben an der HU und Research Fellow an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen die skandinavischen Literaturen des 19. und 20. Jahrhunderts, Literatur und Globalisierung, Hunger in Literatur und Geschichte, Ökologie und Literatur sowie Armut und Literatur. Veröffentlichungen u.a. Die Regierung des Mangels. Hunger in den skandinavischen Literaturen 1830–1960 (2020) und gemeinsam mit Hendrik Blumentrath/Anna Echterhölter/Karin Harrasser: Jenseits des Geldes. Aporien der
Rationierung (2019).

Joachim Grage ist seit 2008 Professor für Nordgermanische Philologie (Neuere Literatur- und Kulturwissenschaft) an der Universität Freiburg. Zuvor war er Juniorprofessor für Nordische Philologie an der Universität Göttingen, wo er 1999 promoviert worden war. Seine historischen Schwerpunkte liegen in der frühen Neuzeit und dem ‚langen‘ neunzehnten Jahrhundert. Derzeit forscht er insbesondere zu Maskulinität und Heldentum in homosexueller Literatur Anfang des 20. Jahrhunderts und gemeinsam mit Thomas Mohnike zur Ästhetik des Protestantismus in Skandinavien. Er ist außerdem Mitherausgeber der Deutschen Søren Kierkegaard Edition.

Annegret Heitmann, pensionierte Professorin für Nordische Philologie an der LMU München. Jüngste Buchpublikation: „The Whole World”. Globalität und Weltbezug im Werk Karen Blixens/Isak Dinesens(2021). Veröffentlichungen zur skandinavischen Literatur der Moderne, zu Medialität und Intermedialität, Gender Studien, Autobiographik, Aphorismen, Balladenrezeption, Gegenwartsliteratur und Populärkultur.

Thor Holt is senior lecturer at the Centre for Ibsen Studies, University of Oslo (UiO). He earned his Ph.D. from UiO in 2020 with a dissertation on Ibsen in Nazi cinema and has published several articles on adaptations of the Norwegian dramatist. Holt is currently working on Ibsen in the Weimar Republic as a visiting scholar at UC Berkeley.

Hans Joas, geboren 1948 in München, studierte Soziologie, Geschichte, Philosophie und Germanistik in München und Berlin. Er war Professor für Soziologie an der Universität Erlangen-Nürnberg (1987–1990), Professor am John F. Kennedy-Institut für Nordamerikastudien und am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin (1990–2002), Max-Weber-Professor an der Universität Erfurt und Leiter des Max-Weber-Kollegs für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien (2002–2011) und Permanent Fellow am Freiburg Institute for Advanced Studies (2011-14). Seit 2000 ist er Professor an der University of Chicago und Mitglied des Committee on Social Thought und seit 2014 Ernst Troeltsch-Honorarprofessor an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Als Gastprofessor lehrte er u. a. in Toronto, Madison, New York, Wien, Uppsala und Göteborg. Von den Universitäten Tübingen und Uppsala erhielt er Ehrendoktorate. Zu seinen Auszeichnungen gehören der Bielefelder Wissenschaftspreis (Luhmann-Preis) 2010, die Werner Heisenberg-Medaille 2012, der Hans-Kilian-Preis 2013, der Max Planck-Forschungspreis
2015, der Prix Paul Ricoeur 2017 und der Theologische Preis der Salzburger Hochschulwochen 2018.
Forschungsschwerpunkte: Religionssoziologie; Soziologie des Krieges und der Gewalt; soziologische Theorie und Sozialphilosophie, insbesondere Pragmatismus und Historismus; Geschichte der Menschenrechte und des moralischen Universalismus Buchveröffentlichungen zum Thema ‚Säkularisierung‘: Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz. Freiburg i. Br. 2004 (englisch 2008, italienisch 2010). Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. Berlin 2011 (englisch 2013, französisch 2016, portugiesisch 2012,
spanisch 2015, chinesisch 2017, kroatisch 2020). Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums. Freiburg 2012 (dänisch 2015, englisch 2014, italienisch 2014, schwedisch 2015, ungarisch 2014, spanisch 2017, französisch 2021). Was ist die Achsenzeit? Eine wissenschaftliche Debatte als Diskurs über Transzendenz. Basel 2014. Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung. Berlin 2017 (niederländisch 2018, französisch 2020, englisch 2021). Im Bannkreis der Freiheit. Religionstheorie nach Hegel und Nietzsche. Berlin 2020. Warum Kirche? Selbstoptimierung oder Glaubensgemeinschaft. (Freiburg 2022)

Dirk Johannsen ist Professor für Kulturgeschichte an der Universität Oslo, Norwegen. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit religiöse Erzählkulturen, Religiositätsformen und Religionsdiskurse des 19. Jahrhunderts, und kognitiven Ansätzen zur Kultur- und Textforschung.

Markus Kleinert studierte Germanistik und Philosophie in München, Pisa und Kopenhagen. Von 2003 bis 2008 war er Assistent für Philosophie an der Akademie der Bildenden Künste München, seit 2008 ist er Leiter der Kierkegaard-Forschungsstelle am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt. An der Universität Göttingen ist er außerdem als Privatdozent für Neuere deutsche Literatur tätig. Aktuelle Veröffentlichungen sind: Andere Klarheit. Versuch über die Verklärung in Kunst, Religion und Philosophie(2021); Søren Kierkegaard: Aufzeichnungen und Journale: Journale NB15-NB20, Deutsche Søren Kierkegaard Edition, Bd. 7 (2021, hg. mit Gerhard Schreiber).

Unni Langås er professor i nordisk litteraturvitenskap ved Universitetet i Agder. Hun har blant annet gitt ut Kroppens betydning i norsk litteratur 1800-1900 (2004), som er en studie i kjønnsnormer og kroppsframstillinger i det nittende århundrets patriarkalske samfunn. Siste bokutgivelser er Traumets betydning i norsk samtidslitteratur (2016) og Terrorizing Images. Trauma and Ekphrasis in Contemporary Literature (redigert sammen med Charles I. Armstrong, 2020). Unni Langås er leder av det tverrfaglige
forskningsprosjektet „Making Memories. Contemporary Aesthetic Articulations of Norway in the Second World War“ (2022-2026).

Dr. Dörte Linke studierte Skandinavistik, Neuere deutsche Literatur und Ev. Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und an der Universität Uppsala. Sie wurde 2022 mit einer Arbeit zu Naturkonzeptionen in der deutschen und dänischen Gegenwartsliteratur promoviert. Seit 2015 ist sie als Lehrbeauftragte und seit 2018 in der Administration am Nordeuropa-Institut an der Humboldt-Universität tätig.

Thomas Mohnike ist Professor für Skandinavistik an der Université de Strasbourg. Forschungsschwerpunkte sind in den letzten Jahren die Ästhetik des Protestantismus in Nordeuropa (mit Joachim Grage und Lena Rohrbach), die vorgestellten Geographien der vergleichenden Philologien des 19. und 20. Jahrhunderts (mit Joachim Grage) und die Beschreibung der kulturellen Zirkulation von Mythemen des
Nordens mit Hilfe von Ansätzen aus den Digital Humanities (https://mythemes.u-strasbg.fr/). Er ist Gründungspräsident der Association pour les études nordiques (2013-19). Zu seinen Veröffentlichungen zählen Géographies du germain: les études nordiques à l'université de strasbourg (1840-1945) (2022), Geographies of Knowledge and Imagination in 19th Century Philological Research on Northern Europe(2017, hg. mit Joachim Grage), Protestantisme en Europe du Nord aux XXe et XXIe siècles (2013, hg. mit Frédérique Harry).

Klaus Müller-Wille, Lehrstuhlinhaber für Nordische Philologie an der Universität Zürich, Forschungsschwerpunkte: Skandinavische Romantik, Avantgarden und Neoavantgarden in Skandinavien, Schreibtheorien, Materialitätstheorien.

Clemens Räthel war bis 2022 Associate Professor für Theaterwissenschaft an der Universität Bergen. Seither bekleidet er den Lehrstuhl für Neuere Skandinavische Literaturen an der Universität Greifswald. Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Arbeit über die Darstellung jüdischer Figuren auf den Bühnen Skandinaviens im 18. und 19. Jahrhundert. Aktuelle Schwerpunkte in der Forschung:
literarische und performative Inszenierungen von Körpern, skandinavische Oper, queere Stimmen in Literatur und Theater sowie jüdisch-skandinavische Beziehungen.

Marie-Louise Svane, lektor emerita, Institut for Kunst og kulturvidenskab, Københavns Universitet. Seneste udgivelse Det fortælles i Istanbul (2018) sammen med Maj Skibstrup (om tyrkisk samtidslitteratur), færdigredigerer p.t. et tobindsværk til udgivelse med arbejdstitlen Orienten som horisont i europæisk litteratur gennem det 19. århundrede.